Blick hinter die Kulissen der Industrie-4.0-Lernfabrik der Technischen Universität Darmstadt Blick hinter die Kulissen der Industrie-4.0-Lernfabrik der Technischen Universität Darmstadt | HBM

Wie funktioniert Industrie 4.0 für den Mittelstand?

Der Weg in die Digitalisierung ist für kleine und mittelständische Unternehmen nicht leicht. An der TU Darmstadt wurde daher eins von deutschlandweit zunächst fünf Mittelstand-4.0-Kompetenzzentren eingerichtet, die vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert werden. Hier können Unternehmen sich über Wege in die Digitalisierung informieren sowie reale Entwicklungsschritte in einer Lernfabrik selbst ausprobieren und entwickeln. Tauchen Sie mit uns ein in eine Welt, die die deutsche Industrie verändern wird.

Das Gebäude ist unscheinbar: Ein grauer Kubus, am Rand des Campus Lichtwiese der Technischen Universität Darmstadt (TU). Doch hinter der zurückhaltenden Fassade versteckt sich ein zukunftweisendes Experimentierfeld: Die Prozesslernfabrik „Centrum für industrielle Produktion“ (CiP). In der lichtdurchfluteten Halle wird geschraubt, gesägt, gespant – wie in vielen Fertigungshallen realer Unternehmen. Und so ist es auch gedacht: Das Produktionsumfeld steht für all die kleinen und mittelständischen Industriebetriebe, die mit teilweise jahrzehntealten Maschinen und papierbasierten Prozessen arbeiten. Mit einem Unterschied: In der Lernfabrik des Instituts für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen an der TU lassen sich Verbesserungen einfach ausprobieren. Ziel ist es, die Entwicklung einer bestehenden Fertigung in Richtung Industrie 4.0 nachzuempfinden.

Wir haben keine Lernfabrik auf der grünen Wiese hochgezogen, sondern bauen auf dem Stand auf, der in vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen wiederzufinden ist. Das heißt, die moderne Produktion wird nicht als Idealbild aus dem Nichts geschaffen, sondern die vorhandenen Geräte und Prozesse werden nachträglich optimiert.

Andreas Wank, wissenschaftlicher Mitarbeiter des PTW und Projektverantwortlicher

„Die TU Darmstadt hat hier im Vergleich zu ähnlichen Lernfabriken ein Alleinstellungsmerkmal“

„Die TU Darmstadt hat hier im Vergleich zu ähnlichen Lernfabriken ein Alleinstellungsmerkmal“, erklärt der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) und Projektverantwortliche Andreas Wank. „Wir haben keine Lernfabrik auf der grünen Wiese hochgezogen, sondern bauen auf dem Stand auf, der in vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen wiederzufinden ist.“ Das heißt: Die moderne Produktion wird nicht als Idealbild aus dem Nichts geschaffen, sondern die vorhandenen Geräte und Prozesse werden nachträglich optimiert. Gefördert wurde das Forschungsprojekt „Effiziente Fabrik 4.0“ von der Europäischen Union aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung mit Kofinanzierung durch das Land Hessen.

Industrie 4.0-Veranstaltung erleichtert den Einstieg

Der Einsatz digitaler Technologien in Produktions- und Arbeitsprozessen bietet vielversprechende Chancen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Erschließung neuer Marktchancen. Das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Darmstadt ist dazu zentraler Ansprechpartner u. a. für kleine und mittelständische Unternehmen. Mit kostenlosen, praxisorientierten Angeboten wird das gesamte Spektrum vom Einstieg in die Industrie 4.0-Themenwelt bis hin zur Umsetzung konkreter Lösungen abgedeckt. Der Fokus liegt dabei auf fünf Themenfeldern, „IT-Sicherheit“, „Arbeit 4.0“, „Neue Geschäftsmodelle“, „Energieeffizienz“ und „Effiziente Wertschöpfungsprozesse“. Weitere Informationen sowie die Anmeldung zu den Veranstaltungen gibt es unter: https://www.mit40.de.

Viel Verbesserungspotenzial bei Mensch-Maschine-Schnittstellen

Großes Verbesserungspotenzial gibt es bei den Mensch-Maschine-Schnittstellen: Oft sind in den Fertigungen noch Daten eingaben per Hand nötig, die Qualitätsdokumentation erfolgt auf Papier. Für die meisten Unternehmen ist der erste Schritt daher eine automatische und digitale Erfassung von Daten. Diese sogenannte Digitalisierung bildet die Vorstufe zur Realisierung der Vision Industrie 4.0.

Grundlage für Verbesserung ist immer eine Analyse des Ist-Zustandes. Im Fall der Prozesslernfabrik an der TU Darmstadt bedeutet das: Ein Maschinenpark mit einer Steuerung von 2005, keine Schnittstellenkompatibilität, keine eigene Sensorik. Ein Schnittstellen-Upgrade würde voraussichtlich rund 20 000 Euro pro Maschine kosten – eine saftige Investition.

Aber auch ohne dieses Upgrade lassen sich die alten Maschinen zumindest teilweise vernetzen. So wurde zum Beispiel an einer Drehmaschine zwischen einem Sensor zur Füllstandsmessung des Kühlschmiermittels und der Maschinensteuerung ein Adapter angebracht, auf den man bidirektional über ein Tablet zugreifen kann. Die Messuhren der Produktendkontrolle der spanenden Fertigung sind mit einem zentralen Datenerfassungssystem vernetzt, das erkennt, ob das Produkt die Anforderungen erfüllt, und automatisiert Fehlermeldungen verschickt. An anderen Geräten sind nachträglich Stromwandler angebracht worden, mithilfe derer sich ableiten lässt, mit welcher Last die Maschine läuft. Die Daten können über das zentrale Leitsystem abgerufen werden.

Die Rollen der Mitarbeiter im Wandel

Zudem kommen an verschiedenen Stellen der Lernfabrik Tablet-Computer mit teils von der TU selbst entwickeltem Bedieninterface zum Einsatz – und werden auch für den Fernzugriff genutzt. Hier zeigt sich, wie auch in einem bestehenden Produktionsumfeld die Mensch-Maschine-Schnittstellen optimiert werden können:

„Die Daten werden aus der Fertigung aufgenommen und vertikal im Unternehmen an verantwortliche Mitarbeiter weitergegeben“

erklärt Andreas Wank. Gibt es also z. B. bei der Qualitätskontrolle ein Problem, bekommt der Produktionsleiter eine Nachricht auf sein Tablet oder Smartphone und kann den Prozess stoppen. Der zuständige Mitarbeiter in der Fertigung kann wiederum per Klick auf dem Tablet eine Video-Konferenz starten und das Problem darstellen.

An diesem Beispiel lässt sich bereits erkennen, wie sich die Kompetenzen der Mitarbeiter im Zuge von Industrie 4.0 verschieben müssen: Wenn Maschinen mehr und mehr Routineaufgaben übernehmen und sich auch selbst steuern, muss der Mensch vermehrt dann eingreifen, wenn es Probleme gibt. Es wird sich also die Rolle der Mitarbeiter hin zum Entscheider und Problemlöser verändern.

Bedarfsgerechte Informationen

Doch die Schnittstellenoptimierung reicht noch weiter: In der Fertigung der Industrie 4.0 werden sich Mitarbeiter anmelden und bedarfsgerecht mit Informationen versorgt. Selbst die Losgröße 1 ist damit kein umständlicher Spezialfall mehr, wie die Lernfabrik der TU bereits zeigt: Für jeden Mitarbeiter werden je nach Qualifikation verschiedene Montagevideos abgerufen und auf die weißen Arbeitstische projiziert. Die Videos sind für eine variantenreiche Fertigung mit realen Produkten aufgenommen und lassen sich per Baukastensystem variieren. Ziel von Industrie 4.0 ist es, dass der Prozess sich dem Mitarbeiter anpasst – nicht umgekehrt. Das erleichtert die Arbeit und beschleunigt Prozesse.

Vernetzung der Maschinen und Systeme

Neben der Vernetzung von Mensch und Maschine geht es bei Industrie 4.0 um die Vernetzung von Geräten untereinander. Stichworte sind das „Internet der Dinge“ oder „M2M-Kommunikation“ (machine to machine). Das fängt damit an, dass Produkte mit einem Transponder, Chip oder Code versehen werden, der an jeder Maschine ausgelesen und mit weiteren Informationen angereichert werden kann. In der Darmstädter Lernfabrik ist ein RFID-System zur Funkübertragung von Daten zwischen Maschine und Produkt bereits im Einsatz – mit kleinen Abstrichen: Zum Beispiel hat das Rohmaterial am Anfang noch keinen eigenen Transponder, da dieser das Fräsen nicht überstehen würde. Dafür lässt sich der Kleinladungsträger, in dem es sich durch die Halle bewegt, verfolgen. Damit kann der Weg des Bauteils durch die Fertigung bereits dargestellt und die Grundlage für eine integrierte Qualitätskontrolle geschaffen werden. Im Zusammenspiel mit weiteren gesammelten Informationen kann der Energieverbrauch pro Produkt kalkuliert werden. Einsparmöglichkeiten sind so leicht zu erkennen.

Praktisches Beispiel: intelligente Messkettensteuerung

Ein zentrales Element dieser vernetzten Produktion ist die Steuerung der Messkette, bei der die Daten aller eingesetzten Sensoren zusammenfließen und verarbeitet werden. Wie das konkret aussehen kann, lässt sich am Beispiel des Industriemessverstärkers PMX des Darmstädter Messtechnik-Unternehmens HBM erklären, der als Wegbereiter in diesem Bereich gilt. Der Messverstärker ist eines von vielen Geräten verschiedener Hersteller, die die digitalisierte Produktion auf dem Uni-Campus zum Leben erwecken und sich für die Aufrüstung bestehender Produktionsketten besonders eignen.

Das intelligente Datenerfassungssystem überwacht und steuert die gesamte Messkette der Produktion (Stichwort „Condition Monitoring“) und sorgt dafür, dass wichtige Unterstützungsprozesse wie Qualitätsmanagement und Instandhaltung optimiert werden. Darüber hinaus ist der PMX mit einer webbasierten Software mit moderner Bedienoberfläche ausgestattet.

Per integriertem Industrial-Ethernet-Anschluss können mit PMX die Produktionsanlagen in Echtzeit vernetzt werden. Zudem erkennt PMX mithilfe elektronischer Datenblätter (Transducer Electronic Data Sheets – kurz „TEDS“) die Sensoren in der Messkette und kann diese automatisch parametrieren, sodass alles gleich wieder einsatzbereit ist. Ausfälle, Abweichungen und Redundanzen werden ebenfalls erkannt, gemeldet oder umgangen. Prozesse und Personaleinsatz werden effizienter. Außerdem „lernt“ das System: Ziel ist eine Selbstoptimierung anhand vorgegebener Kennzahlen. Mithilfe solcher moderner Systeme können Herstellungskosten gesenkt sowie Qualität und Geschwindigkeit gesteigert werden.

Der Artikel wurde veröffentlicht in INDUSTRIELLE AUTOMATION, Ausgabe 4/2016